Titane
Es gehört zu den Gesetzmäßigkeiten des Filmfestivals in Cannes (und vielleicht liegt darin ja die eigentliche Berechtigung für das Spektakel, das häufiger und in vielerlei Hinsicht aus der Zeit gefallen ist), dass es in jedem Jahr den einen Film gibt, der einen umwirft und überwältigt, der alles andere in den Schatten stellt und der wirklich neue Sichtweisen ermöglicht oder vielmehr provoziert. In diesem denkwürdigen Pandemiejahr 2021 war dies ohne jeden Zweifel Julie Ducournaus wilder, freier und radikaler Film „Titane“, der bei allen berechtigten wie unberechtigten Assoziationen an David Cronenbergs „Crash“ weit über diesen hinausweist und der auf sehr beeindruckende Weise nicht nur einen Weg des Filmemachens in die Zukunft weist, sondern der zugleich ganz und gar gegenwärtig und auf der Höhe der Zeit ist. Bei einem Autounfall, den sie als kleines Mädchen gegen die Rückenlehme des Fahrerseitzes selbst mit provoziert, verliert Alexia beinahe ihr Leben und bekommt zur Stabilisierung des gebrochenen Schädels eine Titanplatte eingesetzt, die sie für den Rest ihres Lebens tragen muss. Das Leben mit dem rettenden Metall aber birgt Gefahren in sich, wie ein Arzt warnt: „Achten Sie auf neurologische Anzeichen“, sagt er nach dem Eingriff zu den Eltern, doch da ahnt niemand, wie sehr Alexia in späteren Jahren sich verändern wird. Und ob dies wirklich die Folge des titelgebenden Metalls ist oder nicht vielmehr einem Mangel an Elternliebe entspringt und nur fetischistisch auf das Titan umgeleitet wird, steht zumindest als Möglichkeit im Diskursraum, den der Film mit großer Geste entwirft.
Belgien, Frankreich 2021